Notate 1980–1992

 

«Gäbe es eine Schule der Literatur, müsste man in ihr vor allem die Beschreibung
der Gegenstände üben und nicht die der Träume. Jenseits des Ichs des Künstlers erstreckt
sich eine schwere, dunkle, aber reale Welt. Man darf nicht aufhören zu glauben, dass wir
diese Welt ins Wort fassen, ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen können.» (Zbigniew Herbert)

 

 

1980, Februar

Wer holzt die Sprachwälder ab?

 

1980, März

All jene Momente aufzeichnen, in denen ein Mensch wichtige – für sein soziales Leben wichtige – Dinge lernt. Diese Situationen zusammenstellen zu einer «Chronik des Lernens».

 

Einer Zeitungsnotiz nachgehen, sie bis aufs letzte Wort zerfasern, kehren und wenden. Eine Geschichte darum spinnen, immer weitere Kreise ziehen lassen. Dann die Umkreisungen enger fassen. Das Geschehen soll wieder in eine – diesmal fiktive – Zeitungsnotiz einmünden.

 

Canetti macht Extrapolationen ins Unbekannte hinaus; er denkt in Möglichkeiten mit dem Ziel, dem Unbegreifbaren auf die Spur zu kommen.

 

Wie wendet man Kehrreime?

 

Können Auerochsen Luftballone aufblasen?

 

Wie macht man den Mond betrunken?

 

 

1980, April

Wie es zustandebringen, dass die Oase, die Insel, die ein Gedicht schafft, nicht gleich wieder überflutet wird? Dehnen wir diese «punktuellen Ekstasen» doch aus, lassen wir sie übergreifen in den Alltag, einwirken in die Konventionen, die Regel- und Anstandswelt.

Wem würde einfallen, vor dem Fernseher bei einem Stück oder einem Kabarett zu klatschen? So weit spielt die Entfremdung der Bildschirmwirklichkeit.

Nach einem Gespräch mit D.: Liebesbeziehung als Duell, ein Duell der Blicke, der Gesten, des Geheimnisses versteckter Hände: auf Schlag folgt Gegenschlag, viele Treffer, die meisten beabsichtigt und sehnlichst herbeigewünscht. Oft gibt es Sekundanten. Sie überbringen die Bedingungen, fungieren als Boten für rätselhafte und exaltierte Mitteilungen. Beim Duell selbst stehen sie abseits, greifen kaum je ein. Das erfordert ihr Berufsethos.

 

 

1980, Mai

Das geschriebene Wort erweckt viel eher Vertrauen als das gesprochene. Dieses ist von seinem Wesen her flüchtig, unbeständig, widersprüchlich, jenes allein durch seine Form beständig, unumstösslich und verifizierbar.

Das letzte, was mir von ihr in Erinnerung blieb, war ihr aussergewöhnlich weicher, federnder Gang. Der Gang einer Frau, schien mir, die mit dem Gehen als Kunst lebt.

Der Kompaniekommandant, ein Kinderarzt, tritt zum Zimmer herein, Inspektion. Bleierne Stille, alles erstarrt. Nur die verwaschenen Bretter des Bodens, auf dem der Oberleutnant (ein Kinderarzt) die stummen Männer und stummen Betten abschreitet, knarren.  Schmerzlich aufgerichtete Haltung, die Hände hinter dem Rücken gefaltet. Während der ganzen Prozedur gehorchen diese Menschen, menschliche Kerne in Uniformschalen einem erschreckenden, sicht- und fühlbaren Ritual.

Es scheint, sei übergrosser Spieler im Hintergrund, um die Puppenmenschen zu führen.  Einer ist Akteur, alle nur Beteiligte.

Die Verantwortung wird immer höher delegiert, bis sie in papierenen Paragraphen, Reglementen und Bestimmungen Schutz vor der Offenbarung sucht.

 

 

1980, Juni

Der Traum vom freien Unternehmertum: jedem, der Erfolg gehabt hat, stehen zwei Gescheiterte gegenber.

 

Der unerbittliche Richter. Fällt er seine Urteile aus einer gewissen Menschenverachtung heraus?  Oder bestimmt eine ungeheuer grosse Angst, seine Verletzungen sich und anderen zu offenbaren, sein Verhalten?

 

Naturwissenschaften: der Glaube an die Objektivität der Erscheinung.

 

Die Stadt lebt: ein Hefeteig, der sich aufbläht, eine einzige grosse Blase; und doch nie platzt.

 

Tod: Traum ohne Erwachen.

 

 

1980, Juli

Was mich an Canetti fast am stärksten anzieht, ist, dass er dazu zwingt, sich immer wieder über seinen eigenen Standpunkt klarzuwerden.  Er verhindert die oberflächliche, eilige Zustimmung.

 

Das stille, selbstverständliche Zusammensein, ein gemeinsames Essen, die völlige Auflösung eines fernen Zustands von Gast und Gastgeber.

 

 

1980, August

Die Sprache als eigentlicher Träger des Bewusstseins.

 

Geschichtliches Denken bildet meinen geistigen Hintergrund. Beinhaltet dies auch den Glauben an gewisse, bestimmte historische Gesetzmässigkeiten? Im Gegensatz zu Kolakowski, dem Geschichte eine Anreihung von Zufällen ist. Geschichte ist nachvollziehbar in einem bestimmten Masse.

 

Canetti: Geschichte als verwirklichte unzähliger Möglichkeiten des Geschehens. Gleichzeitig dadurch als ungeheures Potential nicht gelebter Möglichkeiten. Die Nähe zur Literatur, sofern man diese so versteht, dass (in der Fiktion) Möglichkeiten verwirklicht werden.

 

Paris, Place de la Concorde (Obelisk): die Schande, eine andere, völlig fremde Kultur zu berauben, um den Raub mitten im Prunk der eigenen zu präsentieren.

 

Bahnhofbuffet Basel: Eine Rolle ungebrochen durchspielen – die Aufgabe eines Autors, der einen Roman schreiben will. Aber so viele Rollenträger um uns herum, so viele, die sich ihrer auferlegten Rolle, ihrem lebenslangen Spiel nie entziehen.  Sie sterben in ihrer Maske.

 

Mit der Eleganz vergangener Zeiten führt sie langsam den Löffel zum Mund, der halboffen auf dessen Inhalt wartet und sich auch bei den anschliessenden Kaubewegungen nie ganz schliesst.

Vor der nochmaligen Ausführung dieses Vorgangs ein kurzes Aufblicken aus kleinen Augen. Ein verlorener Blick, der weiss, dass sie nicht wirklich in einem Saal voller Menschen sitzt, sondern in einem schrecklich kleinen Glaskasten, der nichts zu ihr eindringen lässt. Dennoch bröckelt die gespannte Sittsamkeit ihrer Bewegungen keinen Moment lang ab. Und es ist sicher – auch wenn sie sich selbst nicht darüber klar ist –, dass sie ihren Part mit der gleichen Konzentration, aufmerksam und still, bis zuende spielen wird.

 

 

1980, September

Bahnhofbuffet Basel: der stiere, wässrige Blick nicht der Unzufriedenheit, sondern des Eingeschlossenseins, in selbstgewebten Maschen, in von eigener Hand geknüpften Netzen: ein Glaskastenblick.

 

Eine ernste Entrücktheit in seinem Gesicht, die gelegentlich den Anschein der Zerstreutheit annimmt. Der Ernst einer Erfahrungslast. Seine zielbewussten, klaren, wie zufällig erscheinenden Bewegungen beim Essen. Eine Arbeit, kein Hängenbleiben an diesem oder jenem Genuss, an diesem oder jenem Geschmack.

 

Adlemsried: nur der Brunnen, der von weitem und nachts wie Regen klingt. Hin und wieder ein Stocken, ein Pfropfen, dann ein drängender Wasserstrahl – nur in diesem Moment hört man ihn bewusst –, ein plötzliches Absacken, und das weniger intensive Geräusch pendelt sich wieder ein in die gewohnte Regelmässigkeit.

 

Eine Schlucht, die aus ihrem Zusammenhang gefallen ist. Wird sie erschreckender werden, weil eine vertraute Relation nun fehlt, oder wird sie im Gegenteil unscheinbarer, weil sie jeden Schrecken als Riss, als Bruch ohne das Gerissene, Gebrochene verliert?

 

«Die Provinz des Menschen»: Canetti geht fragend voran und dadurch, dass er Behauptungen aufstellt, die durch ihre Provokation den Leser in seinem eigenen Ort erschttern. Um sich vor ihnen zu schützen, muss man ihre Glaubhaftigkeit überprüfen und stösst auf die Spur dessen, worum es Canetti geht.

 

 

1980, Oktober

Schreiben erfordert ganze Hinwendung zum Gegenstand, eine Selbstaufgabe ohne Gegenleistung. Das Geschriebene reagiert in höchst undankbarer Weise: es setzt sofort nach und macht sich auf allerlei Wunden breit.

 

 

1980, November

Wo kein Glaube mehr ist, herrscht der Zweifel, die Skepsis mit der Kraft eines Glaubens. Sie erscheint mir ebenso bergend.

 

Das Sammeln, die Leidenschaft des Sammlers entspringt, genaugenommen, der selben Quelle wie die Wissenschaftsgläubigkeit. Beides geht von einer Unbescheidenheit aus, greift in einer totalen Art nach der Welt; der Sammler mit dem Ziel, das Objekt seiner Leidenschaft in seiner Gesamtheit und auch Ganzheit zu erfassen, der Wissenschaftler mit dem Glauben, die Welt der Erscheinungen bis in die letzten Winkel ausleuchten zu können.

In einem aber ist der Sammler weit sympathischer: er ist sich bewusst, dass er sein Ziel nie erreichen wird – und auch nicht will, weil damit auch die Leidenschaft, Triebfeder seines Sammelns, erlöschen würde.

 

Die Dummheit stülpt sich im Lachen jäh nach aussen.

 

Der grosse Schlaf: wenige finden ihn – Majakowski, Celan, Pavese, Gwerder, Améry –, viele scheuen ihn, vereinzelte hassen ihn (Canetti).

 

Der saubere Schnitt.  Es gibt keine Wunde, die schlechter verheilt.

 

 

1980, Dezember

 

An seiner Art, zu essen, zu beurteilen versuchen, wie jemand mit seinen Gefühlen umgeht.

 

Das Leben als Raum zwischen den Atomen.  Keine Masse, nur Bewegung.

 

Er ertappte sich dabei, wie er dem Schlaf die Verantwortung dafür aufbürdete, dass er sich seinen Abgründen nicht stellte. Nachts schuf er Hängebrücken, die am Tag wieder einrissen.

 

Ein Mensch, der seine Vorstellungen von der Welt nur aus Büchern zöge.

 

Etwas treibt ihn in den Schlaf wie andere in den Tod.

 

Der Schatten, den ein Mensch (von sich) wirft, ist sein Abbild.  Er zeigt ihm, wie er ist, rückt ihn in das richtige Verhältnis mit seiner Umwelt.

Worte sind Schatten, die der Mensch ausstreut, um sich zu sehen.

 

Tausend Stunden, um EINEN Gedanken hervorzubringen.

 

Der eine Satz, nach dem Canetti sucht, ist kein Satz, sondern ein einziger Augenblick der totalen Auflösung, deswegen ein ganzes Leben sich vielleicht zu leben lohnt.

 

Das Verhältnis von Verstand und Gefühl mit dem Beispiel eines Pendels charakterisieren. Extreme Ausschläge auf die eine wie die andere Seite: der Preis für eine enorme Erlebnisfähigkeit, eine gesteigerte Sensibilität. Das Pendel anzuhalten, bedeutet den Stillstand für die Uhr; also Tod.

(Nach einem Gespräch mit M.)

 

Kunst als Gestaltung von Defiziten.

 

Plötzlicher Überfall beim Lesen: die Sätze erscheinen, als wären sie bereits bekannt. Mehr noch: als wäre ich gerade dabei, sie im Kopf zu formulieren. Diese Formulierungsversuche auf dem Papier zu sehen schon als endgültige Form.

 

 

1981, Januar

Besuch:

Eine unbezwingbare Ruhe um diese Menschen herum; sie sperren sich nicht gegen das Leben, sondern gehen mit in seinem gleichmässigen Strom, keine Schiffbrüchigen, die da hintreiben, aber auch nicht von der Versuchung befallen, sich dem stärkeren Strom entgegenzuwerfen. Seltsam, unter ihnen scheint die Sünde ein exotisches, wildes Tier zu sein, dessen Schrecken seine Gefährlichkeit bei weitem überwiegt.

Eine haltgebende Unschuld den Dingen und den Menschen gegenüber. Sie immer wieder unter Beweis zu stellen, ihre schier endlose Kraft zu zeigen, nicht damit zu imponieren, scheint ihr stetes Bemühen zu sein.

 

Walter Benjamin, Carl Einstein, Ernst Toller, Kurt Tucholsky, Klaus Mann: Selbstmord als letztes Exil.

 

Der Schadhafte Erzengel. Eine Posse.

 

Gerd H. Padels Vorstellung eines Schriftstellers: das «Gewissen der Nation». Ein Alibi-Gewissen, dessen Gegenwart man sich stets bewusst ist. Aber zu laut soll es nicht werden.

Daher die Empörung – Herrn Padels Empörung – über Peter Bichsels Verrat, im «SPIEGEL» über die Schweiz herzuziehen.

 

Ein von Zeit zu Zeit auftauchendes Bewusstsein des Versagens, eines umfassenden Ungenügens, das bald im Innern wühlt, bald in nervösen Wellen an der äusseren Haltung bohrt. Nichts lässt sich zu Ende führen in solchen Momenten; die Dinge werden haltlos, kehren ihre schlechten Seiten hervor.

 

Ein Buch, geschrieben für einen Leser. Dieser beschäftigt sich mit dem Lesen ebenso lange wie der Autor mit dem Schreiben.

Die ungeheure Kraftanstrengung, diesem Leser etwas mitzuteilen.

 

Der Zusammenhang zwischen Literatur und Mangel. Kann sie überhaupt – heute – etwas anderes sein als ein Ausloten und füllen jener Lücken, die uns von unseren Vorstellungen und Wünschen trennen?

In einer glücklichen Gesellschaft würde die Literatur gegenstandslos.

 

In dem, was ich nicht will, in meinen Ausweichbewegungen beginnt sich ein Weg abzuzeichnen, ein gangbarer Weg.

 

Der Weise:
Eine weitere, unabsehbare Versuchsebene: einen Wahrnehmungswinkel zu erreichen, genau jene Lichtbrechung einer Passage, die sich mit einer dumpfen, sinnlich aber klaren Vorstellung möglichst in Deckung bringen lässt. Atmosphäre schaffen, genau die Zusammensetzung der Luft, die sich mir als richtig aufdrängt.

 

 

1981, Februar

 

Eine Figur, die alles auf eine künftige Verwertbarkeit hin liest und aufnimmt: nichts darf verloren gehen, nichts mehr entweichen.

Eines Tages der blutsturzartige Fall in den Wahnsinn.

 

Die tägliche Einnahme von Erfahrungen: Nahrung und Gift.

 

Die Schreibaxt: Tucholsky.

 

 

1981, März

Das Bewusstsein, wie Frisch sagt, als Prisma, welches das Licht in seine Bestandteile auffächert. Es ist demnach nicht fähig zur Zusammenfassung, zur Herstellung einer Einheit, vielmehr: dies kann überhaupt nicht seine Aufgabe sein. Je mehr es fortschreitet, desto eher gerät es in Zwischenwelten, gerät es zwischen die Stühle. Je weiter es vordringt, desto stärker wird ihm die schmerzhafte Dialektik aller Dinge bewusst.

Entrinnen, Einheit, Zusammenfassung, Sinn wird erst im Traum (bei Frisch), im Mythos (bei Kolakowski) möglich.

 

 

1981, Mai

Vom schwach beleuchteten Rasen aus, den ein Gitter abschloss, wohl um den gerade daran anschliessenden Steilhang abzugrenzen, sah er dem Tram nach, das klein, sehr künstlich, unter einer Überführung hindurchrollte und sich als feine Linie im Hintergrund der Hochhaus- und Strassenlichter verlor.

Diese Linie bildete in seiner Vorstellung einen dünnen, klaren Tintenstrich, welcher sich über die letzten Seiten eines Buches, das darüber hätte geschrieben werden können, schleppend, aber sehr stetig und bestimmt hinwegzog. Der Strich eines Zensors, nicht abschliessend, aber das Objekt seiner Willkür als der Vernichtung anheimgegeben bezeichnend.

 

Die Partikelchen der Verrücktheit krochen ihm zu den Ohren herein, setzten sich auf der Wanderschaft durch seine Gehörgänge irgendwo fest und verloren sich in den Windungen und Schlupfspalten seines Gehirns; einige bohrten sich aus seiner Gaumenwand heraus und bildeten vor seinen Mandeln einen dichten, etwas gelblichen Flaum.

 

Ihr Lächeln: ein verzerrtes Blecken der Zähne bis zum Kiefer. Eine grosse, entstellte Wunde, die durch dieses Verstecken grässlicher wurde.

 

 

1981, Juli

Die Religion des Zweifels.

 

Trügerisch. Wie leicht wechselt man die Linsen aus, mit denen man sich prüft: gerne sieht man sich grösser.

 

 

1981, August

Tanne: Bis weit hinauf am Stamm nur holzige Astspiesse – wie ein schartiger Morgenstern. Die rissige, spröde, schuppige Rinde, von einem bräunlichen Rot, wenn man die einzelnen Schindeln abstreift. Der Baum steht etwas schräg, umso mehr winden sich seine Wurzelenden auf der Erde, verschlingen sich ineinander wie Liebespaare und ziehen sich in langen, überkreuzten und unterwachsenen Strängen über den Boden hin.

 

 

1981, September

Schreibtischkopf. Meine gestrige Liebe in der einen, die heutige Sehnsucht in der andern Schublade.

 

Meine Umweltkonnexionen abgekühlt. Keine Warmblüterei mehr.

 

Einige Beobachtungsstellen im Niemandsland zwischen den Grenzen. Wer sich darin verirrt, ist mir Freund dadurch.

 

Čechov: Das scheinbar Kalte ist das Genauere, das scheinbar Gleichgültige das Klarere, und den Anspruch auf Wahrheit erwirbt man sich nicht durch den Lärmpegel seiner Argumente.

 

 

1981, November

Lesen: Das ist es ja, das Unbegreifliche. Ein Lebenswerk, und es füllt kein Haus, es füllt eine Lücke zwischen zwei anderen Büchern. Und auch dieses Werk zehrt vom Leben vieler Anderer.

 

Brecht, «Lesebuch für Städtebewohner»: Noch nicht der Marxist Brecht, eher noch ein Individualist mit kaltem Blick, der sein Auge dorthin richtet, wo Blut aus dem Körper der Gesellschaft sickert.

 

 

1981, Dezember

Worte: diese furchtbaren Klingen.

 

Ein Luftwesen. Allein inmitten vieler Menschen, gerade mitten unter Menschen. Beim Gezeichnetwerden: nackt bis auf die Haut. Beim Lesen selbst diese Haut noch abgezogen.

 

Die Gleichung, dass mehr Wissen, mehr Kenntnis grössere Fähigkeit zu schöpferischer Arbeit nach sich ziehe, geht nicht auf. Virtuosität ohne Inhalt. Aber Inhalt ohne virtuose Anstrengung kann die Alternative nicht sein.

 

Der Schriftsteller als Besucher des Wahnsinns, als latenter Irrer.

 

Ich habe das Verlangen, die Welt und alles Material, das sie in Bücher gepackt hat, aufzusaugen, einzuschlürfen. Nur Augen, nur Ohr.

 

Kein reiner Geist. Doch das Ertasten der Materie ist an Dinge, denen mir der Sinn abgeht, und das Geben und Nehmen der Liebe ist an Menschen gebunden, die mir ferner und kälter werden.

 

 

1982, Februar

Gestern, in Zürich: Fünfmal Joyce, fünfmal «Ulysses». Einmal konzentriert-monologisch, einmal weltmännisch-bildungsgeladen, einmal marktschreierisch-grotesk, einmal rätselvoll-religiös, einmal jünglingshaft-getragen.

Fünf der sechzehn Leseorte habe ich besucht. Fünfmal ein anderer Autor, und doch jedesmal derselbe Joyce. «Ulysses» als Irrgarten der Sprache, eine Worthydra, die sich mit jedem Biss ein Stück der Welt reisst und als Satz-, Wort-, Lautkaskade ausspeit.

 

Todesgedanken, die der Trostlosigkeit auf den Fuss folgen: ein luzider Moment, wie wenn ich mit einem Mal die wirkliche Höhe der Berge um mich herum erkennen würde - im selben Moment stürzen sie zusammen.

 

Der zynische Arzt: ein Humanist mit zuwenig Kraft, sich in der Selbstaufgabe zu zerreiben.

 

Die Dinge durch ihre Begrenzungen charakterisieren.

 

Grenzgänger: er überquert Grenzen nicht, er begeht sie wie ein Hochseil. Stürzt er ab, so fällt er im Niemandsland zu Tode.

 

In diesen Momenten nimmt «Schlaf» für mich die Bedeutung von «Vergessen» an: eine kurze Nacht, ein kurzer Tod.

 

Die Abseitigen in unserem Jahrhundert: Hohl. Die Privatdenker: Cioran, Canetti. Ohne langdauernde Erfolglosigkeit wären sie nicht denkbar; sie ist ein geradezu konstituierendes Element ihrer Existenz.

 

Ein Filmporträt von Ludwig Hohl: eine unwahrscheinliche Askese, die ihm aber ermöglicht, sein Blickfeld soweit zu verengen, damit er den Punkt, der ihm wichtig ist, messerscharf ins Auge fassen kann. Auch: Alkohol. Seine Aussage, der Tag nach einem Rausch und kurzem Schlaf (etwa vier Stunden) sei jeweils am fruchtbarsten. Auf den ersten Fernsehblick hin ein schrulliger, fünfundsiebzigjähriger Mann. Erst beim Auftritt des Wortes, ob gesprochen oder geschrieben, erscheint der Denker Hohl.

 

 

1982, März

Immer wieder, wenn ich ihnen begegne, frage ich mich, wie diese Menschen beschaffen sind, deren Sensorium mehr aufzufangen vermag, als uns in einer täglichen Bilderflut zu Füssen liegt. Sie heben gleichsam aus Splittern bestehende Eindrücke vom Boden auf und betrachten nicht diese, sondern vielmehr, weit aufmerksamer, den flüchtigen Hauch eines Abdrucks, den diese hinterlassen haben. Daraus lesen sie.

 

 

1982, April

 

Die Akademie des Schriftstellers? Eine luftige Universität, voller Papier und voller Toter.

 

Jemand, der Autobiographien liest und versucht, die darin genannten Personen, an die selbst der Autor nurmehr den Namen erinnert, ausfindig zu machen und mit deren Biographien die vorliegende zu ergänzen.

 

Ingrid Puganigg, «Fasnacht»: Ein karger Roman, ein Sprachgranit. Er wird Bild auf Bild erzählt, aber die Kälte der Figuren lässt jeden Anflug eines Märchenbogens erstarren. Martha und Dubronski werden unentwegt in der nebligen Ebene weitergeschoben und vorwärtsgezerrt, manchmal begegnen sie sich, bis der Nächste sie wieder voneinander trennt.

 

 

1982, Mai

Auch der Schlaf ein kleiner Tod, dem man sich Tag für Tag entzieht, nur um ihm nachts desto sicherer zu verfallen.

 

Der Moment der grössten Schärfe eines Brennglases an der Sonne ist der, in dem der fokussierte Punkt zu brennen beginnt.

 

Eine hochgezüchtete Reflexion, die ihren Träger stückweise vernichtet.

 

 

1982, Juni

Wie sie ein Heft liest und umblättert: Sie nimmt das obere Ende der Seite, die sie umblättern will, zwischen zwei Finger, dreht das Blatt – mit den Fingern am selben Ort – herum und streicht mit der anderen Hand zwischen den beiden Heftklammern nach links ber die ganze Seite, um sie niederzudrücken. Das Heft hält sie mit beiden Händen an den Rändern. Sie liest sehr konzentriert, ohne einmal aufzublicken.

 

 

1983, August

Den Tod umarmen, um ihn zu überwinden.

 

 

1984, April

Immer stehe ich zwischen den Dingen, im besten Fall als Vermittler, Überbrücker; im schlechteren im Niemandsland.

 

 

1984, Juni

Militär: Leute, die ihre Angst (oder was auch immer) in ununterbrochenem und obszönem Schwatzen zum Ausdruck bringen müssen. Sie beplappern ihre Umgebung, als müsse diese dadurch am Leben erhalten werden. Hier wird diese Neigung gleichsam sanktioniert.

 

 

1984, Oktober

Ich gehe anderen Menschen nicht entgegen, ich schreibe mich zu ihnen hin.

 

 

1985, Januar

Aus einem Brief: «Worte. Doch ich glaube an eine Kraft in ihnen, die etwas Schwaches wie Liebe zu tragen vermag.»

 

 

1985, Februar

Zürich, Irchel. Eine milchige, in Rosa- und Blautönen gehaltene Fernsicht. Auf dem gegenberliegenden Käferberg ein rotes Flugleuchtfeuer, das im Farbton eine sommerliche Abenddämmerung vorwegnimmt. Eingepasst in die bewaldete Flanke ein Hochhaus; weiter links fingert ein grosser Baum feinstes Astwerk in den Himmel. Kulturlandschaft, bebaute, verstellte Hügel und Waldränder, und trotzdem: sie liegt in einer Ruhe da, die den langen Aneignungsprozess beinahe beseitigt.

 

Leben zwischen Tag und Traum, Widerspiegelungen des Traums im Tag. Nicht immer ist es klar, ob ich mich gerade im einen oder im anderen Raum befinde. Eine einzige Zugfahrt vermag die Trennwand niederzulegen: ein einziges, schemenhaftes Zimmer, das aus beidem heraus, dem Gegensätzlichen, lebt.

 

 

1985, März

 

Oberiberg, Kanton Schwyz.

Alles ist da: Auf der Hügelkuppe die grosse Hallenkirche, die im Innern mehr den Eindruck eines Ballsaals macht, daneben das Schulhaus; auf der anderen Seite ein Restaurant («Hirschen»), weiter am Platz das Gemeindehaus.

An der Strasse zum Hügel hinauf der Dorffriedhof: ein intaktes Sterben unter Einheimischen – Namen wie Marty, Holdener, Reichmuth, Horat, Tschalun, meist untereinander verheiratet.

 

Ibergeregg, Kanton Schwyz.

An der Wand im Passhöhen-Restaurant ein Ensemble des Jahres 1932, Wandmalerei in Mauve: eine Schweizerfamilie, die Madonna mit Kind (sie hält es wie einen Zopf). Neuere Zutaten durchbrechen das Gefüge: Metallschilder, Türklinken, Kaffeemaschinen.

Gleich neben dem Restaurant auf der Höhe eine Marienkapelle, familiengestiftet (Reichmuth-Ribli), ausserdem Schenkungen der Allmeinde (sic) Oberiberg und der Korperation (sic) Schwyz.

 

 

1986, Juli

Eine ungeheure Erlebnisflut, die durch den Fernseher ins Wohnzimmer gespült wird. Die ganze Welt ist verfügbar, Bilder beliebiger Herkunft treffen zusammen auf engstem Raum und fast gleichzeitig. – Das Problem, die verheerende Wirkung von Dokumentationen: sie nehmen das Sehen ab, das beobachtende Selbst-Sehen. Was sie bieten, ist vorverdaut, die verarbeitete Wahrnehmung des Dokumentaristen. Die so vorgesetzten Bilder werden nur noch verschluckt, allenfalls in Fetzen aufgenommen. Anders als beim Film bilden sie jedoch keine eigene, stringente Wirklichkeit, sondern werden als lose Partikel der Dingwelt verweht.

Die Vervielfältigung – und gleichzeitig die Atomisierung – der Erfahrung.

 

Lese-Brücken, Halte-Seile in Büchern.

 

 

1986, Oktober

Reisen. Die Banalisierung des Gesehenen: was man als nicht-touristisch meint aufgenommen zu haben, erweist sich als neues Abziehbild mit blossem Klischeewert. Die Fotografie dabei als Blick-Fang ohne Seh-Erfahrung.

 

Reisen als die Suche nach eigenem Ursprung? Nein. Seinen Ursprung findet der Reisende ja nicht in der Ferne, sondern nur bei sich, in der Rückverlängerung der eigenen Biographie. Reisen demnach als Flucht? Ja. Ueberwindung von Geschichte durch Ueberwindung von Raum. Selbstfindung im Fremden. Selbstaufgabe und Identitätsveränderung in der Suche nach Erfahrung.

 

Eine Speisefolge wird zum Gedicht: wie transformiert man einen Ess-Text, bis er soweit entfremdet wird, um neuen Sinn anzunehmen? Die Stufen der Metamorphose festhalten.

 

Wahrnehmungen sammeln und festhalten. Ein Wahrnehmungs-Journal.

 

 

1986, November

 

Kurdische Hirten, wenn sie mit einer Photographie konfrontiert werden: Ohne Bilder aufgewachsen und ohne Bilder lebend, sind sie nicht in der Lage, die zweidimensionale Abbildung auf die dreidimensionale Wirklicheit zu übertragen.

Unsere Abbild-Kultur gegen ihre Bildlosigkeit.

 

 

1986, Dezember

 

Die frischlingshafte Begeisterung, die von keinen Begrenzungen weiss und alles machbar findet. Sie überschätzt die eigenen Möglichkeiten bis ins Masslose und lässt sich nicht belehren. Das zu erschüttern ist undankbar.

 

 

1987

Einen Menschen danach charakterisieren, wie er seine Wunden trägt.

 

Aus einem Brief: Robert Walser benennt die Dinge nicht, er untergräbt sie mit seinen Ausweichbewegungen. Das ist viel bedrohlicher.

 

Natur: Kulisse, die Imagination zu bebildern.

 

Fotos entstellen die Person mit dem zunehmenden Bemühen, sie natürlich zu gestalten. Das Gemeinte verkehrt sich in sein Gegenteil und wird lächerlich.

 

Das Nachwächter-Empfinden: Grösstmögliche Einsamkeit – aber alle sind da, dieser verschlingenden Nacht nur durch den Schlaf entzogen.

 

 

1988

H. Es ist paradox: Je mehr ich über sie schreibe, desto mehr entschwindet sie mir. Ich schreibe sie weg. Dabei bin ich vollkommen besetzt von ihr. Aber es sind Bilder-Blitze: nichts, das durch Worte belebt würde.

 

Der um Klarheit bemühte Teil in mir, der wissen möchte, der Ahnungen, auch Wünsche, in Gewissheit verwandelt sehen will; aber auch der ungeduldige Teil, der vorschnelle. Er fordert, hält fest – und zerstört dadurch.

 

Das Fernsehen frisst das Gedächtnis und überdröhnt es mit Bilderschrott, der, kaum gesehen, wieder zerfällt. Keine Zeit für irgendetwas, sich abzusetzen und Erinnerung zu formen.

 

Das Tasten, hinter den Worten, ob beide dasselbe meinen, dasselbe fühlen, die Scheu vor der letzten Geste, die Gewissheit gäbe. Und schliesslich die unendlich zarte Bewegung. Ein ganz unglaublich stiller Taumel, von Worten einer anderen Welt umhüllt.

 

Beschränkung im Zwiegespräch: Auf semantische Schalen angewiesen zu sein, statt sich in Wortvibrationen verständigen zu können.

 

 

1990

Die unvergleichliche Macht der Lust. Sie zerrt nachts den Verstand in Träume hinein, die den Hunger nach der Lust stillen sollen: Sie wecken ihn nur noch mehr. Stillen kann ihn nur der warme Körper, der Atemhauch, der Blick.

 

 

1992, Januar

Traum: Das letzte Bild ein Zusammenstoss zweier Flussschiffe. Das Heck des vorderen Schiffs ist eingedrückt, der Rumpf heftig nach vorn geschoben und bereits in der versinkenden Aufwärtsbewegung.

«Ein klarer, sauberer Unfall», bemerkt jemand.

 

Menschen, bei denen sich kein Gegenstand zuviel in der Wohnung befindet. Kein unnötig herumstehendes Möbel, keine Zeitung, kein Buch, die herumliegen. – Die saubere Abtrennung alles Störenden und der Zerstreuung; die Reinlichkeit des Denkens.

 

 

1992, Februar

Die Paranoia eines grossen Geheimdienstes ist eindrücklicher als dessen Leistungen. Verschwörungs- und Verfolgungswahn machen auch grosse Aufklärungserfolge wertlos. Die entscheidende Schwachstelle: die Unfähigkeit der Leitung und der Auftraggeber, auch bedeutende Resultate richtig zu würdigen.

 

Irritation über C. Er kann mitleidlos egoistisch sein, wenn es um seine Arbeit geht, freundschaftlich angebotene Hilfe beiseiteschieben, wenn sie seine Sache einzuschränken droht; Missverständnisse werden zu Gefahren, die unverhältnismässig verschreckt abgewehrt werden.

 

Ein archivalisches Gedächtnis hätte ich, sagt man, das verblüffende, breitest gestreute Splitter hervorbringt. – Ein Faktenbergwerk, das nur Bruchstein fördert, sage ich, aus dem man keine Quader zu Gebäuden fügen kann.

 

 

1992, August

Nachtmensch-Habitus am Beispiel von H.G.: Tagsüber leicht dämmernd, dabei ruhig und abgeklärt wirkend; auf Fragen, Bemerkungen (auch Lob) meist reaktionslos, wie wenn das Gehör auf Transit geschaltet wäre. Auf Kritik und Hinweise auf Fehler folgt keine Bemerkung oder auch nur ein sichtbares Erschrecken. Es ist nicht einmal sicher, ob der Einwurf überhaupt registriert wurde.

 

 

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